Übers Überleben und mehr


N.H. schreibt:

 

Es ist Donnerstag Abend und ich sitze bei Herrn Beyer-Götzinger auf der gemütlichen schwarzen Ledercouch. Mir geht es schlecht. Es war für mich ziemlich schwer heute diesen Termin wahrzunehmen, denn es ist kein „regulärer“ Termin. Vielleicht kann man es Krise nennen, in der ich gerade stecke. Und obwohl es mir schlecht geht, fällt es mir schwer, den Notfalltermin anzunehmen, wahrzunehmen.

Rückblick: Vor ziemlich genau einem Jahr schlug ich bei Herrn Beyer-Götzinger in der Praxis auf. Damals war ich am Ende meiner Kräfte und wollte so nicht mehr weiterleben. Ich war 24 Jahre alt, hatte bereits einen Uniabschluss in der Tasche und wollte im Sommer heiraten. Was war falsch an mir? Ich konnte und wollte nicht verstehen, warum ich nicht fröhlich und ausgeglichen durchs Leben gehen konnte. Irgendwas musste an mir verkehrt sein. Es hat eine lange Zeit gedauert, bis ich mich getraut habe, in Psychotherapie zu gehen. Und das obwohl ich selbst im sozialen Bereich arbeite. Ich dachte, das steht mir nicht zu. Ich dachte, anderen geht es schlechter als mir und ich darf denen den Platz nicht wegnehmen. Und ich dachte, ich stelle mich nur an. Heute weiß ich, dass das selbstfeindliche Muster sind, die ich seit frühster Kindheit gelernt und kultiviert habe. Damals hat es mir den Schritt in die Therapie total schwer gemacht.

Und genau diese Muster sind es jetzt wieder, die mir heute zu schaffen machen. Wieso sollte ich einen Notfalltermin verdient haben? So schlimm ist es doch gar nicht. Der Unterschied zum letzten Jahr ist, dass ich es heute geschafft habe, mir trotzdem Hilfe zu suchen und zwar unmittelbar jetzt, wo es mir schlecht geht. Das mag banal klingen, aber es ist für mich ein großer Schritt.
Was mir heute in der Krise hilft sind eigentlich alt bewährte Sachen, die mir im vergangenen Jahr immer wieder geholfen haben. Da ist zum einen das gemeinsame tiefe Atmen, das mir einen Teil meiner Anspannung nimmt, die mir so zu schaffen macht. Da ist der wertschätzende Umgang mit dem Blick darauf, was sich schon verändert hat, was ich schon geschafft habe. Und da ist das darüber reden können ohne die Angst haben zu müssen, für meine Gedanken oder Gefühle oder Erinnerungen oder alten Verhaltensmuster verurteilt zu werden. Auch das klingt vielleicht im ersten Moment banal, aber es war ein anstrengender Weg bis hierhin.

Rückblick 2: Zu Beginn der Therapie war es so, dass ich mich kaum öffnen konnte. Es fiel mir schwer über mich und meine Gefühlswelt, mein „Innenleben“ zu sprechen. Ich habe das nie gelernt. Herr Beyer-Götzinger kam mir hier sehr entgegen, denn wenn das sprechen nicht ging, durfte ich E-Mails schreiben – was ich auch oft genutzt habe. Nach und nach kam zum Vorschein, dass eben doch nicht alles so toll war in meinem Leben bisher. Das Wort „Traumatisierung“ bekam eine völlig neue Bedeutung für mich, für mein Leben, für meine Arbeit, für meinen jetzigen Mann. Immer mehr Erinnerungen kamen, Bilder, Körpergefühle, Sätze, die ich immer wieder gehört habe. Ich hatte vorher nicht gedacht, dass das in der Form und Heftigkeit passiert. Egal was ich mitbrachte in die Stunde, ich hatte immer das Gefühl, dass es ok ist so. Manchmal setzte ich mich selbst unter Druck, wollte schneller Erfolge sehen und wurde dann immer wieder einfühlsam auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Warum bin ich heute gekommen? Ich hatte mich am morgen das erste Mal seit vielen Wochen wieder selbst verletzt. Auch das ist ein heikles Thema, weil es in der allgemeinen Meinung oft als Zeichen dafür gilt, Aufmerksamkeit zu suchen. Dabei will ich mich am liebsten verkriechen. Ich schäme mich dafür, kaum jemand weiß davon, ich habe Angst, dafür verurteilt zu werden. In der Therapie habe ich das Gefühl, dass Herr Beyer-Götzinger das selbst verletzen als das nimmt, was es ist: ein dysfunktionales Muster, das mir früher das Überleben erleichtert hat. Es wird weder aufgebauscht noch bagatellisiert. Ich bin auch nicht suizidal oder so. Nicht mehr. Auch das ist ein Erfolg.

Als die Stunde heute vorbei ist, geht es mir besser, obwohl ich eigentlich sehr traurig bin. Der Auslöser für meinen Absturz war etwas aus der Kindheit, etwas, das mir gefehlt hat – und das ist nun mal traurig. Der Unterschied ist, dass das traurige Gefühl jetzt situationsangemessen ist, passender als dieses unspezifische Anspannungsgefühl und „einheitsschlecht“ von vorher. Und ich bin stolz, dass es geschafft habe, um Hilfe zu bitten. Auch das ist noch neu – Stolz. In meinem ganzen Leben war ich nie wirklich stolz auf das, was ich geschafft habe. Ich hatte immer das Gefühl, es ist nicht gut genug. Egal ob es gute Noten, ein super Abitur, ein schnelles Studium oder Erfolge im Sport waren. Und auch hier hat mir Herr Beyer-Götzinger viel geholfen – auch wenn ich zugeben muss, dass ich mich manchmal mit Händen und Füßen gewehrt habe dagegen, irgendwas positives zu sehen in meiner aktuellen Situation. Es war und ist sicher nicht leicht mit mir an dieser Stelle ;)

Ausblick: Ein Jahr bin ich nun schon in Therapie und obwohl es wirklich streckenweise harte Arbeit und schmerzhaft war und ist, habe ich es nicht bereut. Ich hätte es wahrscheinlich viel früher machen müssen, aber ich konnte nicht. Auch das kann ich heute sehen und ich muss mir deswegen keine Vorwürfe mehr machen. Ich werde noch eine Weile brauchen, bis ich so stabil bin bzw. die „neuen“ nicht mehr selbstfeindlichen Verhaltensmuster so stabil sind, dass ich mir meinen Weg ohne therapeutische Begleitung wieder zutrauen kann. Aber heute glaube ich, dass ich es schaffen kann.